Respekt ist etwas, das Eltern in der Regel von ihren Kindern erwarten. Implizit begründet wird dieser Respekt oft mit der Elternschaft als solcher. Man hat eben einfach Respekt vor den eigenen Eltern. So weit, so richtig? Idealerweise hat man allen Menschen gegenüber Respekt. Zumindest wenn Respekt als anerkennende Achtung anderer Menschen verstanden wird. Ist es jedoch das, was gemeint ist, wenn davon die Rede ist, dass Kinder einen respektvollen Umgang gegenüber Erwachsenen, LehrerInnen und allen voran ihren Eltern zu pflegen haben? Oder wird Respekt nicht auch heute noch ein Stück weit mit Gehorsam gleichgesetzt? Im Sinne von: „Du machst, was ich sage und wenn du es nicht tust, zeigt es, dass du keinen Respekt vor mir hast.“ – Gehorsamkeit also. Eine Bedeutung von Respekt, die so auch heute noch – wenn jedoch nicht allein – im Duden zu finden ist. Doch ist diese Form von Respekt, welcher ein Machtverhältnis zugrunde liegt, tatsächlich das, was wir wollen? Wollen wir, dass sich unsere Kinder aus Angst vor Bestrafungen vor uns beugen oder wollen wir, dass sie uns ernst nehmen und achten, dass sie uns für fair und gerecht halten?
Kinder lernen durch Beobachtung und Nachahmung. Wenn wir möchten, dass unsere Kinder andere Menschen achten und sie nicht von oben herab behandeln, dann müssen wir unsererseits respektvoll mit unseren Kindern umgehen. Und dazu müssen wir sie wiederum ernst nehmen. In ihren Bedürfnissen, in ihren Kompetenzen, in dem, was sie sagen. Es hat nichts mit Respekt gegenüber einem Kind zu tun, wenn es die Jacke anziehen muss, obwohl es sagt, ihm sei nicht kalt. Es hat nichts mit Respekt zu tun, wenn dem Kind noch drei Löffel Nudeln aufgedrängt werden, obwohl es sagt, es sei schon satt. Kinder dürfen sich anders fühlen als Erwachsene. Sie sind eigene Individuen. Ihnen darf warm sein, wenn uns kalt ist; sie dürfen satt sein, obwohl sie noch nicht viel gegessen haben. Wir dürfen das auch. Bestimmte Dinge können Kinder allein entscheiden und diese Entscheidungen sollten Eltern respektieren. Auf den eigenen Körper hören, nein sagen können, wenn man etwas nicht möchte, eigene Entscheidungen treffen können, all dies sind Dinge, die wir bei Erwachsenen durchaus schätzen. Warum nicht auch bei Kindern? Warum sollten wir Kindern nicht die Möglichkeit geben, diese Dinge früh zu lernen und zu üben und sich selbst ohne ein „Hab-ich-es-dir-doch-gesagt!“ zu korrigieren, falls sie dann doch einmal eine falsche Entscheidung treffen?
Respekt bedeutet auch, die Eigenheiten von Kindern zu akzeptieren, sie anzuerkennen. Kinder sind unterschiedlich. Das dürfen sie sein. Kinder zu etwas zu drängen, was sie einfach nicht wollen oder noch nicht können, bringt niemandem etwas. Erst recht nicht dem Selbstwertgefühl oder dem Selbstvertrauen eines Kindes; auch wenn man gerade das mit derartigen Dingen vielleicht sogar stärken möchte. Es bringt auch niemandem etwas, Kinder untereinander zu vergleichen oder Geschwister immer konsequent gleich zu behandeln, wenn sie doch ganz unterschiedlich sind. Es hat etwas mit Respekt zu tun, sein Kind genauso zu sehen, wie es ist; es anzunehmen, wie es ist. Das heißt selbstverständlich nicht, dass wir alles gutheißen müssen, was ein Kind tut. Es heißt auch nicht, dass es keinerlei Grenzen gibt. Es heißt „nur“, dass wir unser Kind nicht ändern sollten, weil wir glauben, es müsse anders sein, als es ist; weil wir glauben, es müsse sein, wie andere Kinder.
Wir sollten unsere Kinder so behandeln, wie wir selbst gerne behandelt werden möchten. Wir möchten nicht auf Zuruf irgendwelche Befehle ausführen oder Anordnungen Folge leisten („Du räumst jetzt dein Zimmer auf! Sofort!“). Wir möchten nicht beschimpft oder angeschrien werden. Und ja, Kinder brauchen Führung. Jedoch nicht in einer Weise, die von oben herab stattfindet. Vielmehr benötigen gerade Kleinkinder eine liebevolle Begleitung. Sie brauchen jemanden, der ihre gern als „Trotz“ bezeichneten Autonomiebestrebungen nicht als ein respektloses Handeln sieht, sondern als das, was sie sind: ein normales, hirnentwicklungsbedingtes Verhalten. Sie brauchen jemanden, der altersangemessenes Verhalten nicht als Ungehorsam mit dem Streichen der Gutenachtgeschichte bestraft, sondern der ihnen beim Umgang mit ihren Emotionen hilft. Sie brauchen jemanden, der zu ihnen hält, wenn es schwierig wird. Jemanden, der sie auch dann noch respektvoll behandelt, wenn die Leute im Supermarkt einem mit ihren Blicken in Anbetracht des gerade nicht „braven“ Kindes völliges Erziehungsversagen unterstellen. Psychisch gesunde Kinder und Erwachsene zeichnen sich in der Regel nicht durch eine von Gehorsamkeit geprägte Kindheit aus. Kinder brauchen jemanden, der sie bedingungslos liebt und das auch vermittelt.